Auszug eines Beitrages der Märchenerzählerin Lisa Tetzner, in dem sie die Volksmärchen denen der modernen Dichtermärchen gegenüberstellt und an einem aus ihrer Sicht negativen Beispiel die Märchen Manfred Kybers anführt. Der vollständige Artikel ist auf Wunsch erhältlich. Das moderne Märchen in seinem Verhältnis zum VolksmärchenEinige Worte über den Wert und Unwert des modernen Märchens von Lisa Tetzner Aus: Hellweg. Wochenschrift dür deutsche Kunst. 4.Jahrgang (1924) Heft 18, S.321/322
Mit dem Begriff "Märchen" ist leider schon sehr viel Mißbrauch getrieben worden. Die Märchenform hat immer wieder dazu verleitet, daß berufene und unberufene Dichter diese Form dichterisch zu gestalten versuchten. Es geschah sehr oft in völliger Verkennung der eigentlichen Märchenidee. Man symbolisierte mystisch verworren in süßlich blumenhaften Phantasien, war altklug weise und kindlich naiv. Oder man ließ seinen Spott und Übermut über menschliche Schwächen und Eigenheiten, hinter Tier- und Sachmaske versteckt, in glossenhafter Märchengewandung spielen. Geschah das von wirklichen Dichtern, so schuf es eine unzweifelhaft gewandte, belustigende oder tief ernsthafte reine Kunstform. Aber eine Form, die weit ab vom eigentlichen Märchengedanken lag. Gewiß läßt sich über die Idee des Märchens streiten; aber ich sage, hier soll ein stärkerer Trennungsstrich gezogen werden. Das, was wir in der Literatur der letzten Jahre von namhaften Dichtern als Märchen besitzen, sind alles mehr oder weniger b e w u ß t e Kunstwerke, denen jede Ursprünglichkeit fehlt. Und hier setzt die erste strenge Scheidungslinie, die grundsätzliche Abweichung von der Uridee des Märchens ein. (...)
Wir haben heute ich greife auch hier wieder nur einige neuere Vertreter wahllos als Beispiel heraus Hermann Löns, Hermann Hesse, Waldemar Bonsel, Manfred Kyber und andere. Was aber trennt gerade d i e s e Dichter so abgrundtief von der Grundidee des Märchens? Sie sind Löns in seiner Naturhaftigkeit vielleicht weniger so ganz und gar unkindlich, so durch und durch gewollt und belastet mit der eigenen Persönlichkeit. (...)
Und wenn Manfred Kyber in seinen Märchen, z.B. in der "Geschichte von der hohlen Nuß" (ich greife sie nur aus v i e l e n seiner Märchen als Beispiel heraus), beginnt: "Es war einmal ein kleines Menschenkind, das war vom Himmel auf die Erde heruntergefallen, sozusagen aus Versehen" usw., so hat das mit Märchen, geschweige denn mit K i n d l i c h k e i t , gar nichts mehr zu tun. Sätze wie: "sozusagen aus Versehen" sind gewollte Naivität und wirken beschämend der wahren großen Kindlichkeit gegenüber. Und diese Märchen sind darüber hinaus noch jenes frisierte Schnörkeltum, jene weichliche Tändelei, an denen das moderne Märchen krankt. Es soll damit kein Werturteil über Manfred Kybers Dichtkunst an sich gegeben werden. Ich will nur zeigen, daß d i e s e Art keinerlei Parallelen mehr zum eigentlichen Märchen hat, mit dessen klarer, kräftiger, schlichter Stilart, und daß dieses moderne Märchen eine völlig selbstständige Kunstform für sich ist, abgeirrt vom wahren Märchensein. (...)
Nun ist es gewiß unser persönliches Recht, in eigener Weise alte Formen neu zu beleben, ganz den Stil und die Art unserer Zeit zu haben und aus ihr schöpferisch zu sein. Aber das ist nicht der Weg, auf dem sich eine Neubelebung der Märchenliteratur bewegen kann. Denn auf diese Weise wird uns immer das Volksmärchen in seiner klaren Einfachheit, Wunderkraft, Kindlichkeit und Tiefe überlegen bleiben. (...)
Richard Hohly, anthroposophischer Künster, geboren 1902 in Löwenstein, schildert seine Begegnungen mit Manfred Kyber. Hohly fertigte auch ein Portrait von Kyber. Hotel und Gastwirtschaft Hohly extistieren heute noch in Löwenstein 1923 kam der baltendeutsche Dichter und Schriftsteller Manfred Kyber, der durch seine Tiergeschichten bekannt geworden war, nach Löwenstein. Er hatte in Berlin und Moskau studiert, er war ein außerordentlich feinsinniger und höflicher Mensch. Dieser letzteren Eigenschaft verdankt er es, daß ihn die Bolschewiki 1917 nicht umgebracht haben. Er erzählte, daß er gerade am Schreibtisch gesessen sei, als einige schwerbewaffnete Bolschewisten in sein Landhaus einbrachen und plötzlich vor ihm standen. Er forderte sie höflich auf, Platz zu nehmen und sich mit Zigaretten zu bedienen. Diese Haltung muß die Soldaten derart "entwaffnet" haben, daß sie ihren Auftrag nicht ausführten. Kyber, der danach zuerst als freier Schriftsteller in Berlin lebte und dann als Theater-Kritiker vorübergehend in Stuttgart sein Brot verdiente, wählte Löwenstein zu seiner neuen Heimat. Dort lebte er recht bescheiden in einer Dachwohnung und aß zu Mittag im Gasthaus meiner Eltern. Wenn das Wetter es zuließ, führte sein täglicher Spaziergang zum Grab der Seherin von Prevorst, dorthin, wo er selbst später zur letzten Ruhe gebettet wurde. Seine Grabstätte liegt unmittelbar neben derjenigen der Friederike Hauffe, über deren merkwürdigen Gesichte dereinst Justinus Kerner Niederschriften gemacht hat. Kyber hielt nach dem Kriege die ersten Vorträge über Okkultismus in der Volkshochschule in Stuttgart. Die Seherin war ein "okkultes" Rätsel, das ihn anzog. Dazuhin besaß Löwenstein, in dessen Umgebung die Seherin gelebt hat Prevorst liegt anderthalb Stunden entfernt, und als Kind war Friederike zumeist bei ihren Großeltern Schmidgall in Löwenstein eine eigenartige Atmosphäre der "geistigen Anstrengung". Diese zog an die Grenze, die das Okkulte berührt. Das hat auch Manfred Kyber gespürt. Das Ehepaar Kyber bekam sehr viel Besuch, seine Gäste wohnten ebenfalls bei meinen Eltern; und so kam es, daß ich sehr viele interessante Menschen kennenlernte, die sich mit okkulten Problemen beschäftigten. Unter den Freunden Kybers waren auch einige Anthroposophen; zumindestens Elisabeth Kyber (geb.v.Boltho) stand der anthroposophischen Gesellschaft nahe. Kyber legte aber immer Wert auf die Feststellung, daß seine übersinnlichen Erkenntnisse auf eigener Wahrnehmung beruhten. So hatte ich interessante Gespräche mit ihm. (Aus: Richard Hohly. Leben und Werk. Einführender Text von Dorothea Rapp. Stuttgart, Freies Geistesleben 1980, EA. (S.155-157) )
Haus der Schatten, Garten der Geister In: Münchner neueste Nachrichten 83 (1930)Nr.114 vom 27.4.1930, Seite 1-2 Manfred Kyber, der hervorragende Dichter und Vorkämpfer für den Tierschutz in Deutschland, der kürzlich seinen 50.Geburtstag feierte, erzählt in folgendem Aufsatz aus seinem Leben. Wenn man über das eigene Leben oder über das eines anderen Menschen schreiben soll, so scheint mir das immer ein wenig mißlich. Ich hatte stets den Eindruck, daß genauere biographische Daten uns eine Persönlichkeit, wie sie geistig tatsächlich ist, eher ferner als näher rücken. Das Wesentliche verliert sich in Einzelheiten, wird verdünnt und verwässert, und das, was durch alle Phasen wandelt, wirkt allzu starr in einem Augenblicksbild. Wenn ich auf mein Leben zurückschaue, das ja zudem noch nicht abgeschlossen ist, so fühle ich nicht mehr als eine Reihe bunter und oft verworrener Bilder, viel schwere Stunden und wenig lichte. Ich wüßte nicht, welches dieser Bilder ich herausgreifen sollte, das wesentlicher wäre als die anderen, das für sich allein stehen könnte ohne die ganze Kette der Dinge. Gewiß gibt es Meilensteine auf dem mühsamen Weg des Daseins, aber auch sie sind irgendwie miteinander verbunden. Wesentlich scheint mir mehr, was hinter dem Leben spielte, was sich kaum merklich als Keim hineinsenkte, um einmal als Frucht geboren zu werden für Werk und inneres Werden. Solche Keime in einem Menschenleben beginnen früh sich zu regen.
Ich denke an das alte nordische Gutshaus, daß die Welt meiner Kinderjahre war. War es nicht ein Haus der Schatten, wie das Haus in meinem Buch "Die drei Lichter der kleinen Veronika"? Es war alt und verbaut und weitläufig, viele Generationen hatten darinnen gewohnt, es spukte ein wenig darin, verblichene Bilder hingen an den Wänden, der Kater Mutzeputz war um mich und lehrte mich die Tierseele verstehen, wie ich sie später so viele Male gestaltet und bekannt habe, und auf dünnen und gebrechlichen Beinen, grau und unscheinbar, schlüpfte Magister Mützchen durch die Dämmerung und öffnete mir die Pforte zum Märchenreich.
Ich muß bekennen, daß mir als Kind die Tiere und die Märchengestalten oft wahrscheinlicher und lebendiger erschienen als die Menschen, deren Ansichten mir vielfach fremd waren und an die ich mich erst ganz allmählich gewöhnen konnte. Was dem Erwachsenen unwahrscheinlich war, war mir wahrscheinlich und was ihnen als selbstverständlich galt, kam mir oft genug sehr zweifelhaft und manches Mal lächerlich vor. Ich habe später eingeshen, daß ich damit nicht so unrecht hatte. Der heutigen ungeistigen Zivilisation stehe ich heute vielleicht noch ferner wie als Kind, Mutzeputz und Magister Mützchen aber noch weit näher als damals. Denn was damals unbewußt und erahnt war, ist mir heute bewußt, und aus dem Gefühl wurde Bekenntnis. Die Keime sind Frucht geworden. Und war nicht nahe beim Hause der Schatten auch der Garten der Geister? Ein Park mit alten Bäumen und Gärten mit Blumen, und überall das Leben der Tiere, und noch weiter, darüber hinaus die einsamen nordischen Wälder mit Tannen und Birken und weiten öden Mooren, über denen es seltsam geisterte und geheimnis- volle Schleier wob.
Ich habe so viel hier gesehen und innerlich erschaut, ohne weiter darüber nachzudenken. Aber die Seele sammelte die Keime und holte sie aus seinen unterbewußten Tiefen wieder hervor, wenn sie Frucht werden sollten. Gewiß ist es eine irrige materialistische Auffassung, aus solchen Eindrücken heraus Wesen und Werk eines Menschen begründen zu wollen. Nicht diese Dinge bildeten die Seele, sondern die Seele, aus einem fernen Lande kommend, suchte sich aus dem Diesseits die ihr verwandten Keime, um sie einst zu bilden und zu gestalten. Nicht das Diesseits schafft uns, sondern das Jenseitige wirkt ins Diesseitige zu immerwährenden Stunden der Empfängnis und der Geburt. Und nur so ist ein Menschenleben interessant, nur so ist es wirklich zu werten, daß man, ein wenig über den äußeren Ereignissen stehend, hinter die Dinge zu schauen lernt und sieht, wie sich die vielen feinen Fäden durch alles hindurchziehen, sich suchen und finden: und uns zu den Meilensteinen des Werdens und zu den uns nahen Seelen von Menschen und Tieren führen.
Gewiß habe auch ich unendlich viel beobachtet, ganz bewußt Menschen und Tiere betrachtet. Meine Tiergeschichten wären ohne solch eine genaue und liebevolle Betrachtung gewiß nicht so gestaltet worden, wie sie sind. Darum ist es auch falsch, hier, wie es vielfach geschieht, von Tierfabeln allein zu sprechen. Es sind nicht Fabeln in jenem Sinn, der Tiere lediglich als menschliche Figuren handeln läßt. Ich habe den Tieren die volle Eigenart, die ich unendlich genau beobachtet habe, gelassen, aber ich habe mich nicht mit dieser doch stets nur ziemlich äußerlichen Auffassung begnügt, sondern ich habe die Möglichkeiten der Tiere intuitiv gesteigert, sie ein wenig hinaufgeschoben und ausgebaut. Und diese Tiere sind ihrem inneren Wesen nach mehr Tiere als die der äußeren naturwissenschaftlichen Schilderung, weil ihre gesteigerten Möglichkeiten weit tiefer und liebevoller in die eigentliche Seele der Tiere hineinführen als jede noch so sorgsame allein äußere Beobachtung. Es ist ja das Wesen der wirklichen Dichtung, nicht beliebige Erfindung oder Betrachtung, wie eine materialistische Scheinkultur glaubt, sondern es ist das Gestalten des inneren Kerns und Wesens der Dinge. Damals erschienen mir Tiere vielleicht nur so, und heute weiß ich es, daß sie so sind, und mit mir wissen es viele, die Freunde dieser Tiergeschichten geworden sind. Im Übersinnlichen sind die Tiere tatsächlich so, denn da sind sie gesteigert in ihrem Wesen, und wir begreifen sie nur, wenn wir sie so erfassen in ihrer eingentlichen Wesenheit, nicht in ihrer diesseitigen Äußerung.
Das gleiche gilt für das Märchen. Auch das Märchen, daß ich als Kind erahnte im Hause der Schatten und im Garten der Geister, ist mir heute bewußte übersinnliche Wirklichkeit, ist etwas vom Geheimnis aller Natur und vom Jugendland der Menschheit, in das zurückzurufen heute vielleicht die wichtigste geistige Aufgabe ist, denn die Menschen der Gegenwart haben den Geist vom Verstand verdrängen lassen und sind Maschinen geworden statt schöpferische Kinder des Alls. Und wenn ich den weiten und mühsamen Weg des Lebens in Gedanken weiterwandere, wie er mich hinausführte aus dem Hause der Schatten und dem Garten der Geister, immer weiter in die Dämmerung des Daseins hinein, so vermag ich auch hier nicht einzelne Bilder zu greifen, sondern mir ist, als müsse ich nur immer weiter den Fäden nachgehen, die sich unsichtbar von Keim zu Keim und von Frucht zu Frucht gesponnen haben. Alles andere war oftmals traurig und schwer, und selten war es schön und sonnig, aber wesentlich war es eigentlich nicht. Wesentlich waren und bleiben allein die unsichtbaren Fäden des Geschehens, die das Jenseitige ins Diesseitige wirkt, das Ewige ins Zeitliche, und die uns einmal wieder hinausführen werden in das ferne Land, aus dem wir kamen.
Aber es war ein weiter und mühsamer Weg für mich, bis ich lernte, in Dunkel und Dämmerung die drei Lichter der kleinen Veronika anzuzünden. Die erahnte Wirklichkeit davon besaß ich als Kind, wie wir alle, die bewußte Wirklichkeit habe ich mir erst erwerben müssen. Wenn aber diese drei Lichter brennen, scheint einem das Dasein trotz aller Widersprüche sinnvoll zu sein, man fühlt sich eins mit dem All, mit Menschen, Tieren, Pflanzen und Steinen, mit den Kräften in der Erde und mit den Sternen über ihr und "Gestern, Heute und Morgen ruhen in einem Schoß". |